Der Quastenflosser

In diesem sehr umfassenden Artikel beschreibt unser Mitglied Dr. Daniel Carl Heine nicht nur die Entstehungsgeschichte der Nationalen Kreuzer sondern führt diese auch auf ihren Ursprung zurück. Ein Überblick über beinahe 150 Jahre Bootsgeschichte, die der Autor mit einer interessanten These in Bezug auf den 45er Nationalen Kreuzer beschließt.


Ein Quastenflosser ist eine Mosaikform. Als Mosaikform werden Tiere oder Gattungen bezeichnet, die Merkmale verschiedener Entwicklungsstufen zeigen. Vereinfacht gesagt: Es handelt sich um ein lebendes Fossil, welches in der Evolutionsbiologie auch als «Brückentier» bezeichnet wird. Die Frage lautet also, ist der 45er ein lebendes Fossil oder Brückentier bzw. «Brückenschiff»?  Meiner Meinung nach, ja, der 45er ist ein «Quastenflosser»!  

Brückentiere haben sich in der Evolutionstheorie als äusserst bedeutsam erwiesen, weil sie belegen, dass sich Arten und Gattungen nicht nebeneinander, sondern aus einander entwickelt haben. Ein «Brückenschiff» wäre demnach ein Schiffstyp das sowohl Merkmale sehr alter Schiffstypen mit Merkmalen moderner Schiffstypen kombiniert und sich aus diesen heraus entwickelt hat. Das gilt es bei einem 45er Nationalen Kreuzer zu beweisen. 

Gehen wir also zurück in die Entwicklungsgeschichte unserer Klasse und werfen einen Blick in die Entstehungszeit unseres Untersuchungsobjekts. 

Gewinnerin der 0.5-1.0 ton Klasse «Scotia1» Olympische Spiele 1900, Konstruktion Linton Hope

Entstehungszeit  

Beginnen wir mit einem Blick auf die erste Yacht-Vermessungsformel der neueren Geschichte. 

Unser Aufsatzpunkt sind dabei die Olympischen Sommerspiele im Jahr 1900 in Meulan die auf der Seine durchgeführt wurden. Leider bei sehr wenig Wind, es gab nur zwei Läufe, man könnte sagen es waren klassische Bodenseeverhältnisse. 35 Schiffe waren gemeldet, davon 20 Schiffe in der Klasse der sogenannten 0.5 – 1.0 Tonner. Es waren drei Nationen am Start, ein englisches Team, das übrigens dann die Goldmedaille mit Lome Currie am Ruder mit seiner Yacht «Scotia 1» und dem englischen Konstrukteur Linton Hope als Crewmitglied gewann, sowie ein einziges deutsches Team mit Steuermann Paul Wiesner, der mit seinem Team in der offenen Klasse die Silbermedaille holte. Der Rest waren allesamt französische Teams.

Gesegelt wurde nach der sogenannten «Godinet Rule» benannt nach dem Konstrukteur Auguste Godinet. Die Godinet Rule wurde 1892 durch die «Union des yachts français» als Vermessungsformel eingeführt und geht im Wesentlichen auf das noch ältere «Thames Measurement System» zurück, was ursprünglich eine Messgrösse für die Frachtkapazität eines Schiffs war und demnach ausdrückte wie viel Tonnen ein Schiff in der Lage war zu tragen. Das Thames Measurement System wurde im Jahr 1854 unter Führung des Thames Yacht Club entwickelt und diente dann als Grundlage für die Godinet Formel.  

Einer der heute noch segelnden Tonner ist die am Genfersee beheimatete Phoebus II, die 1903 von August Godinet selbst als 3 Tonner konstruiert wurde. 

Phoebus II, 3 Tonner, 1903 Auguste Godinet

Die wahrscheinlich berühmteste noch existierende Yacht, die nach der Godinet Formel konstruiert wurde, ist die von Charles Sibbick 1898 konstruierte 5-Tonner Yacht «Bona Fide», die in der klassischen Regattaszene lange Jahre vor allem bei wenig Wind als unschlagbar galt.   

Bona Fide, 5 Tonner, 1898 Charles Sibbick
Bona Fide, 5 Tonner, 1898 Charles Sibbick

Besonders auffallend an den Yachten der Godinet Rule ist das auch nach heutigen Standards noch moderne Unterwasserschiff mit geteiltem Lateralplan und einem äusserst flachen Unterwasserschiff. Leicht an den Proportionen zwischen Segelfläche und Rumpf ist auch abzulesen, dass die Schiffe eher für Binnenreviere bzw. Schwachwindreviere konstruiert waren als für rauere Küstengewässer.  

Riss einer 5-SL Yacht von w. v. Hacht, 1903

Zur selben Zeit dominierte in Deutschland und Österreich die Segellängenformel bzw. die Segellängen Yachten, die ebenso eher auf die deutschen und österreichischen Leichtwindreviere ausgerichtet waren. Sie waren zu dieser Zeit die meist verbreiteten Regattayachten in Deutschland. Die Segellängen Yachten waren den späteren Meteryachten nicht unähnlich, bis auf den Unterschied, dass die späteren Meterklassen gedeckt waren und mit Ihrem viel höheren Ballastanteil eher auf Küstengewässer ausgelegt waren. Wie die Tonner Klassen der Godinet Formel sind die nach der Segellängenformel konstruierten Schiffe einen genaueren Blick aus der Sicht der «Yachtevolutionstheorie» wert. 

Wie bei den Godinet Rule Schiffen ist das zunächst auffälligste Merkmal der Segellängenyachten, der ebenfalls geteilte Lateralplan, d.h. ein vom Kiel getrenntes Ruderblatt. Die Yachten wurden daher auch im Deutschen als «Flossenkieler» bezeichnet. Allerdings setzte sich der geteilte Lateralplan nicht durch, und die späteren Segellängenyachten wurden wieder traditionell d.h. mit einem an den Kiel angehängten Ruderblatt konstruiert. Hintergrund war, dass die relativ kleinen «Flossen-Ruderblätter» nicht wirklich die Ruderwirkung zeigten wie es heute tiefe und schmale Ruderblätter können und damit vor allem bei mittleren Windstärken nicht ausreichend effektiv waren. Zudem zeigt die Rumpfform relativ wenig Freibord und war in der Tendenz eher schmal als breit.   Formstabilität stand damit weniger im Vordergrund. Das Steilgaffelrigg war bereits nahe am späteren Marconi Rigg und der schon damals eingesetzte Bugspriet zur Verlängerung des J Masses lässt schon fast an heutige Yachtkonstruktionen erinnern. Leider mangelte es bei der Segellängenformel an einheitlichen Bauvorschriften. In der Konsequenz wurde das in Deutschland 1902 eingesetzte Segellängen Messverfahren bereits im Jahr 1907 wieder abgeschafft und die Segellängenyachten hatten damit in Summe eine eher kurze Existenz und waren schon nach wenigen Jahren wieder ausgestorben. Als Hauptgrund würde ich aus heutiger Sicht vermuten, dass die sehr modernen konstruktiven Ansätze ihrer Zeit voraus waren und sich in Kombination mit den damals zur Verfügung stehenden Materialen einfach nicht «überlebenssicher» umsetzen liessen. Die Annahme wird untermauert durch die Tatsache, dass man sich mit allgemeinen Bauvorschriften schwer tat, was nicht verwundert, denn die Materialanforderungen und einhergehenden Segeleigenschaften waren mehr ein «trial – and – error» Verfahren als eine stringent durchdachte Konstruktion. Zudem kommt, dass die Schiffe für Küstenreviere aufgrund des tiefen Freibords und ihrer Übertakelung nicht zu kontrollieren waren.   

Eine stark ähnliche Gattung zu den Segellängenyachten wurde in England parallel unter dem Namen «Thames A-class rater» unter der Führung des Thames Sailing Clubs entwickelt und gesegelt. Die A-Rater waren die Nachkommen der englischen «Half Rater» und waren in der Summe noch aggressiver konstruiert als die Segellängenyachten. Die Rumpfform im englischen als «scow» bezeichnet war sehr flach, voluminös, fast rechteckig und der freistehende Kiel an einer Metallkielsole befestigt.  

Charles Sibbick, Half Rater, 1897

Auch auf der anderen Seite des Atlantik experimentierte das amerikanische Konstruktionsgenie Nathaniel Herreshoff ebenfalls an Half Ratern und konstruierte Yachten mit geteiltem Lateralplan. 

Herreshoff «One Half Rater» 1892

Die Erfahrungen sowohl in England als auch in Amerika mit den Half Ratern waren identisch zu den Erfahrungen in Deutschland bei den Segellängenyachten und führten dazu, dass der Wunsch nach seetüchtigeren Yachten und vor allem auch nach stabileren Yachten mit einheitlichen Bauvorschriften stärker wurde. 

So kam man in Europa im Jahr 1906 zur Ansicht, dass es sinnvoll wäre ein erstes gesamteuropäisches Konzept zu entwerfen, um auch Nationen übergreifend mit Schiffen gleicher Bauvorschrift gegeneinander segeln zu können. Am 12. Juni 1906 war es dann soweit, dass sich die führenden europäischen Segelnationen in London trafen um die erste «International Rule» aus der Taufe zu heben. Es folgten zwei weitere Konferenzen, eine im selben Jahr in Berlin und eine dritte Konferenz im Jahr 1907 in Paris wo schliesslich die «International Yacht Racing Union - IYRU » gegründet wurde. 

Wir kennen das Ergebnis dieser damaligen Beschlüsse heute unter dem Begriff der Meter-Klasse, oder genereller gesagt der Konstruktionsklasse. Die sogenannte First Rule galt ab dem 1. Januar 1908 für zunächst 10 Jahre.  Es folgten zwei weitere Anpassungen der Formel, im englischen als «second rule» (1919-1933) und «third rule» (1933-heute) bezeichnet. 

Vater der Meter-Formel war der Kopenhagener Apotheker und Hobbykonstrukteur Alfred Benzon, der bereits auch schon die Segellängen-Formel mit entwickelt hatte. 

Rückblickend war die International Rule die bis heute mit Abstand international erfolgreichste Vermessungsformel. Die 6 Meter Yachten wurden von 1908 bis 1952 durchgängig olympisch gesegelt, die 8 Meter Klasse war bis 1936 olympisch und schliesslich wurde der America`s Cup zwischen 1958 bis 1987 auf 12 Meter Yachten gesegelt. Mit diesem Erfolgsausweis ist die Konstruktionsklasse eine absolute Erfolgsgeschichte. Gleiches gilt für die IYRU, die wir seit 1996  unter der Abkürzung «ISAF», also unter der International Sailing Federation kennen. 

Major Heckstall Smith, der Sekretär der IYRU schrieb 1908: «The rules of yacht racing are now the same in all the countries of Europe. A few years ago a state of hopeless chaos resigned everywhere. Different systems of measurement and classification and different codes of sailing rules prevailed, and the average yachtsman was quite unable to master them all. If he was accustomed to race in England he was very much at sea when he visited Germany, and, similarly, he was apt to find himself high and dry on the coast of France.”  

Allerdings hatte die damals noch junge Konstruktionsklasse auch Ihre Schattenseiten und diese Schattenseiten bzw. Schwächen begründeten sich in der «DNA» der alten Tonner und Rater Klassen. Die relativ kurzen Wasserlinien, mit grossen Überhängen, geringe Freibords und geringe Schiffsbreiten gepaart mit völlig überdimensionierten Gaffelriggs machten die Schiffe bei Wind unkontrollierbar. So brachte die first rule Meterklasse zwar zweifelsohne die optisch vielleicht schönsten klassischen Yachten hervor die je gebaut wurden, allerdings hatte dies buchstäblich seinen Preis. Zum einen bezahlte man teuer auf dem Wasser sobald es über 3 Beaufort bliess mit einem schlicht und einfach kaum noch zu bändigendem segelndem Ungetüm, zum anderen bezahlte man auch faktisch teuer, denn verursacht durch die nach Vermessungsformel einzuhaltenden Lloyds Bauvorschriften «Llyods scantling rules», die die Bauqualität und das Baumaterial vorschrieben und dies in der Kombination mit den extremen Konstruktionen, verursachten eine dramatische Kostenexplosion der first rule Yachten. Eigentlich auch kein Wunder, «Apothekerpreise» eben.    

8mr Silhouette, 1910 William Fife

Über die Jahre 1908-1918 wurde zunehmend klar, dass eine Anpassung der Formel unausweichlich ist und so wurde 1919 die Formel radikal angepasst. Die wesentlichsten Änderungen betrafen Segelfläche und Gurtmass. Im Ergebnis wurde erreicht, dass die Schiffe der second rule deutlich länger, viel voluminöser und ebenfalls aufgrund der viel geringeren Segelfläche, kombiniert mit der Einführung des Marconi Riggs auch bei Wind wieder segelbar wurden. 

Geprägt wurde die Konstruktionsklasse durch die damals führenden internationalen Konstrukteure wie Johan Anker, William Fife, Charles Nicholson, Alfred Mylne, Olin Stephens, Starling Burgess, Clinton Crande, Francois Camatte, Baglietto, Bjarne Aas und weitere. Deutsche Konstrukteure finden  sich hingegen weniger. Nur wenige wie z.B. Max Oertz, Henry Rassmussen und Willy v. Hacht konstruierten Meteryachten. 

Wahrscheinlich auch ein Grund dafür war, dass die frühen Olympiaden alle nicht in Deutschland stattfanden. 1908 London, 1912 Stockholm, 1920 Antwerpen, 1924 Paris, 1928 Amsterdam, 1932 Los Angeles und erst dann im Jahr 1936 die erste in Deutschland stattfindende Olympiade, machten es den deutschen Konstrukteuren nicht leicht Auftraggeber und eine Lobby für Ihre Yachten zu finden. 

First Rule Meterklassen 1908-1918; 6er, 8er, 10er, 12er

Es verwundert daher nicht, dass Deutschland gewissermassen einen eigenen Weg einschlug und sich  das deutsche Regattawesen etwas abseits der IYRA entwickelte und sich zunehmend nach einer eigenen Konstruktionsklasse sehnte. Evolutionstheoretisch könnte man sagen, eine Mutation war naheliegend.  

Des Kronprinzen Friedrich Wilhelm Yacht, Sonderklasse Angela, 1907 Max Oertz.
Sonderklasse Angela, restauriert, heute in perfektem Zustand bei Joseph Martin, Radolfzell

Ausgang und Mutationszeit der deutschen Regattaszene bildet mit Sicherheit die Kieler Woche, die übrigens zum ersten mal 1894 in der Presse als solche so benannt wurde und dann mit dem Besuch Kaiser Wilhelm II im Jahr 1889 zu grosser Popularität kam. So verzeichnete die Kieler Woche im Jahr 1892 bereits 100 Meldungen und Kaiser Wilhelm nahm mit seiner Yacht Meteor I teil. Am Rande bemerkt, sind die drei ersten kaiserlichen Yachten, Meteor I bis Meteor III von GL Watson und Archibald Smith konstruiert und in Schottland bzw. New York gebaut. Erst Meteor IV wurde 1909 von Marx Oertz konstruiert und auf der Germania Werft in Kiel gebaut.  Die Kieler Woche wuchs rasant. Im Jahr 1907 verzeichnete die Kieler Woche 6000 teilnehmende Boote. Eine besondere Rolle spielte dabei die Sonderklasse die ebenfalls als Konstruktionsklasse zwischen dem Lübecker Yacht Club, dem Norddeutschen Regattaverein und dem Kieler Yacht Club auf Anregung des Kaisers persönlich ins Leben gerufen wurde und zum ersten mal im Jahr 1900 an der Kieler Woche teilnahm. Mit der Sonderklasse war damit der Grundsein für den deutschen Yachtsport gelegt und sie wurde die erste Rennklasse, die als internationale Klasse anerkannt wurde und in verschiedenen Ländern nach einheitlicher Formel gebaut und gesegelt wurde.      

Bei der Sonderklasse handelt es sich wie bei der Meterklasse um eine Konstruktionsklasse, die allerdings zusätzlich zu den Konstruktionslimits wie z.B. maximal Wasserlinienlänge, maximale Breite, grösster Tiefgang zusätzlich noch einen maximalen Baupreis definierte. Der lag im Jahr 1900 bei 5100 Mark - dies entspricht nach heutiger Schätzung ca. 100TEUR, sowie zu guter Letzt noch vorschrieb, dass die Crew ausschliesslich aus sogenannten «Herrensegler» zu bestehen hatte. Herrensegler waren definiert als Herren die ihren Lebensunterhalt nicht «durch die Hände Arbeit» verdienen, ausserdem war bezahlte Crew verboten. Allerdings waren die Herren nicht lange in der Lage die Damen aus den attraktiven Schiffen fern zu halten, im Gegenteil, spätestens ab 1911 als die Prinzessin Eitel Friedrich an Damenwettfahrten teilnahm, was der Sonderklasse den Spitznamen «Amazonenklasse» einbrachte, war auch für Damen der Regattasport offen.  

Der Erfolg der deutschen Sonderklasse war phänomenal, so führte der Kieler Yacht Club mit dem Eastern Yacht Club of Marblehead im Jahr 1906 die ersten deutsch – amerikanischen Regatten  an der Ostküste der USA durch, dies sozusagen parallel zu den olympisch segelnden Meterklassen.  Dies war allen voran dem kaiserlichen Haus Hohenzollern enorm wichtig. Der Kaiser war immer bemüht einen Anschluss des deutschen Regattasports and den internationalen Regattasport zu schaffen. Fast die gesamte kaiserliche Familie, S.K.H. Prinz Heinrich der Kaiserbruder und die anderen Prinzen, die Söhne des letzten deutschen Kaisers segelten alle in der Sonderklasse. 

Sonderklasse Tilly XV, 1912 gewinnt die Gstaad Yacht Club Centenary Trophy 2017

Die Konstruktionsvorschriften liessen den Konstrukteuren sehr grossen Spielraum für die deutschen Konstrukteure wurde die Sonderklasse zur Referenz des deutschen Yachtsports. Die bekanntesten deutschen Konstrukteure waren alle vertreten, allen voran Max Oertz, W. von Hacht, Paul Francke, Claus Engelbrecht und Fritz Naglo. In Amerika waren es Herresshoff, Burgess und Alden die sich an der Sonderklasse versuchten. Bekannteste Werft war die Engelbrecht Werft in Berlin Zeuthen, hier baute Claus Engelbrecht seit 1890 Segel und Motorjachten und es entstanden mit den noch jungen Konstrukteuren, Max Oertz und Paul Franke die berühmtesten deutschen Regattayachten.   

Leider führte die international ausgerichtete Strategie des kaiserlichen Hauses gewissermassen im eigenen Land, in ein Dilemma. Sowohl die deutschen Binnensegler, allen voran die Segler der Berliner Seen meinten sich vernachlässigt und noch schwerwiegender, das sich etablierende Bürgertum fühlte sich vom Segelsport zunehmend ausgeschlossen. Teure, fast ausschliesslich für olympische Zwecke einsetzbare und schwer zu segelnde Meterklassen, eine vom deutschen Adel ebenfalls kaum für breite Freizeitzwecke protegierte international segelnde und sehr extreme Sonderklasse waren mit dem aufkommenden Breitensport nicht mehr zu vereinbaren und genau an dieser Stelle kam es zum Mutationssprung!  

Am XX. Deutschen Seglertag 1911 des Potsdamer Yachtclubs wurde folgender Antrag gestellt: 

«Um einem allseitig gefühlten Bedürfnis abzuhelfen, ist zur Hebung der Rennsegelei auf deutschen Binnengewässern eine rennfähige Kreuzerklasse zu schaffen, deren Grösse etwas den 6-7 SL Kreuzern des alten Messverfahrens entspricht.». 

Schiffbau-Ing. Ilgenstein brachte in diesem Zusammenhang vor: 

«Mir fällt das Urteil eines erfahrenen Seglers ein, der erst 10m Segellängenyachten und dann 10m Segelmeteryachten in vielen Wettfahrten erfolgreich steuerte. Er erklärte, die mangelnde Anfangsstabilität der Segelmeterboote wäre ein Grundübel schlimmster Art. Der unentwegte Kampf um die Oberhand zwischen Bleibalast und Segelfläche, bei dem der Geldbeutel des Seglers dauernd der Leidtragende ist, ist ein Grundübel schlimmster Art. Mir sind Boote mit Formstabilität lieber und wertvoller als jene Bootstypen, die ihre Segelfläche nur mit Hilfe eines gewaltigen Bleiklumpens zu tragen vermögen, ohne deshalb eine höhere Geschwindigkeit zu erreichen als Boote mit wenig Blei, geringerer Besegelung und besserer Formstabilität.»        

Ebenso wurde verlangt, dass die neue Konstruktionsklasse auch für Freizeitzwecke einsetzbar ist. Ein Mindestmass an Komfort sollte Sie aufweisen und auch am Wochenende mit der Gattin an Bord ein Mindestmass an Tourentauglichkeit aufweisen und segelbar sein, kurzum auch für den Breitensport und für die Freizeit geeignet sein.  

Das seglerische Establishment wehrte sich heftig gegen den Antrag und in der hitzig geführten Debatte über die Vor- und Nachteile des Meterklassensystem waren es natürlich die offensichtlichen Schwächen der first rule Boote, die sogar dem seglerischen Laien einleuchteten und in der Argumentation schwer wogen.  Allerdings war es aber im Grunde eine viel tiefgreifendere Debatte, , man könnte sagen es war eine politische Diskussion und ein Aufeinanderprallen der herrschenden gesellschaftlichen Klassen im Ausgang des 18ten Jahrunderts gegen das sich stark etablierende und wachsende Bürgertum des frühen 19ten Jahrhunderts. Die vom deutschen Kaiser propagierte  internationale Ausrichtung des Segelsports und damit eine Unterstützung der teuren, zwar  olympischen Meterklassen versus einer günstigeren, auch für reine Freizeitzwecke einfacher zu handhabenden und erschwinglichen Bootsklasse für das nicht adlige Bürgertum. So überrascht es nicht, dass bei der Abstimmung der gesamte kaiserliche Yachtclub mit 22 Stimmen gegen den Antrag stimmte, der Antrag aber mit den Stimmen der Berliner Clubs trotzdem knapp positiv entschieden wurde. Damit war der Weg frei für die Entwicklung der ersten nationalen Kreuzerklassen und zwar der 45qm Kreuzer für Binnenfahrt und der 75er Kreuzer für Seefahrt. 

Und so sieht unsere «Quastenflosser» im Original aus:  

Der erste nationale 45qm Kreuzer «Wunsch II» entworfen und gebaut von Max Oertz 1912
Max Oertz

Allerdings wurde in den folgenden Jahren schnell klar, dass die Schiffe zu kurze Wasserlinien hatten und im Wettbewerb zu den Meteryachten ein Geschwindigkeitsmanko aufwiesen.  Wunsch II von 1912 hatte noch eine Länge von 8.35m, und es war dann im Jahr 1916, als neue Bauvorschriften verabschiedet wurden, und die grösste Länge auf 10.50m festgesetzt wurde. Ebenfalls wurde die Wasserlinienlänge, Überhänge, Freibord und weitere Grenzmasse angepasst. Beibehalten wurde die strikte Einhaltung der Bauvorschriften durch den Germanischen Lloyd, der vor allem die Abmessungen der einzelnen Verbandsteile vorschreibt, um die Langlebigkeit und Seetüchtigkeit der Schiffe zu gewährleisten. Ebenfalls hatte sich die Wohnlichkeit bzw. der Einbau eines Mindestmasses  an Kojen, Schränken etc. für den Einsatz als Freizeitfahrzeug bewährt 

Damit war die Mutation gelungen und die neue Kreuzerklasse wurde die mit Abstand populärste Klasse auf den deutschen Binnenseen. Die Bautätigkeit erreichte im Jahr 1925 ihren Höchststand. Damals waren beim D.S.v.Vb  einundneunzig 45er registriert. 

In den 30iger Jahren auf dem Bodensee vor Bregenz, 45er Nationale Kreuzer Regatta. P82 Schelm, gefolgt von P140 Immer noch und P100 Tamino
Klassischer 45er, P82 Schelm, 1923 Paul Francke, Engelbrecht, Berlin

In den Nachkriegsjahren wurde es ruhig um die 45er und es ist allen voran Josef Martin zu verdanken der 1988 die 45er aus ihrem Dornröschenschlaf erweckte und mit Plänen nach eigener  Konstruktion moderne 45er in klassischem Stil in seiner Werft in Radolfzell begann. 

Moderner 45er im klassischen Stil, 2018 Josef Martin

Nicht zu vergessen Markus Glas der gut zehn Jahre später, d.h. im Jahr 1998, in seiner Werft in Possenhofen mit dem Bau von modernen 45er nach Plänen des Konstrukteurs Klaus Röder der 45er Klasse zu einem weiteren Schritt und grosser Popularität auf den bayrischen Binnenseen verhalf.  

Moderner 45er, Konstruktion Klaus Röder, Glas, Possenhofen

Nach 100 Jahren ist der 45er zurück wo er einmal war, und ist die grösste und erfolgreichste Regatta Klasse auf den deutschen Binnenseen.   

Warum hat der 45er also über 100 Jahre überlebt und warum ist der 45er nicht wie viele andere Yacht- und Vermessungsgattungen ausgestorben? Die Antwort ist: Weil er ein Quastenflosser ist, ein lebendes Fossil, ein Brückentier! Die 45er haben das geschafft was die Tonner Klasse, die Rater Klasse, die S-L Yachten, die Sonderklasse, die Meteryachten, die Schärenkreuzer allesamt nicht erreichen konnten. Die 45er waren in der Lage sich aus den anderen Klassen heraus zu entwickeln und haben sich nicht wie die anderen Konstruktions-Klassen inzestuös ihrer eigenen Ausrottung ausgesetzt. 

Welche Haupteigenschaften waren es die zum Aussterben der oben aufgeführten grossen Kreuzerklassen führten. 

Die Tonner Klasse, die Rater Klasse und die Segellängenyachten waren allesamt seglerisch zu extrem, konstruktiv den verfügbaren Materialeigenschaften unterlegen und keiner Mindesteinheitlichkeit unterstellt. Ihr Schicksal war eine sehr kurze Lebenszeit und ein völliges Aussterben. Sie waren nicht langlebig genug, es existierten keine einheitlichen Bauvorschriften. 

Die über Jahrzehnte erfolgreiche Meterklasse starb aus, weil die Hauptschwächen ihrer obigen Vorgängerklassen in das andere Extrem überkompensiert wurde. Gewichtsstabilität war das Zauberwort – heute noch oft als «Bleitanker» beschimpft stand bei den Meterklassen die Formstabilität im Hintergrund. Die strikte Einhaltung von «Scantling Rules» sicherte hervorragende Seetüchtigkeit und Langlebigkeit. Dennoch das Konzept der Gewichtsstabilität konnte sich langfristig nicht gegen das Aufkommen moderner Baumaterialen durchsetzen und mit der Entwicklung und dem Einsatz stärker belastbarer Materialen wie z.B. Kevlar gewann im Laufe der Zeit Formstabilität die Oberhand über die Gewichtsstabilität. In der Konsequenz starben die Meteryachten aus, sie hatten den Kampf zwischen Gewicht und Geschwindigkeit endgültig verloren und ihre Unfähigkeit zu Gleiten, war ihr finales Todesurteil.      

Die 45er hingegen, entnahmen bereits bei ihrer Entstehung aus den anderen Gattungen heraus die starken und überlebenswichtigen Eigenschaften und kombinierten diese intelligent mit neuen Eigenschaften und Erkenntnissen. 

So ist der 45er damals wie heute eine Schiff, das sich aus den Segellängenyachten und der Sonderklasse heraus die Formstabilität, den flachen und eher breiten Rumpf mit modernem Unterwasserschiff entlehnt, aus den Meterklassen strikt die Einhaltung von einheitlichen und auf Seetüchtigkeit und Langlebigkeit basierenden Bauvorschriften wie dem Germanischen Lloyd verpflichtet und diese beiden wesentlichen Eigenschaften kombiniert mit dem Anspruch ambitionierten Regattasport und Segeln für den Breiten – und Freizeitsport zu verbinden. 

Ich wage einen Blick voraus und würde mich nicht wundern, wenn das weitere Überleben unseres Quastenflossers für die nächsten 100 Jahre auch weiterhin aus der intelligenten Kombination der vier Eigenschaften; Formstabilität, Langlebigkeit, Regattaattraktivität und Freizeittauglichkeit besteht.   

Über allen vier Eigenschaften steht jedoch die Fähigkeit und die Offenheit der 45er als Konstruktionsklasse sich ausanderen Gattungen jene Elemente herauszupicken und sich aus den starken Eigenschaften der anderen weiter zu entwickeln. 

Dies unterscheidet das Wesen einer Konstruktionsklasse vom Wesen einer Einheitsklasse. Selbstverständlich bieten Einheitsklassen, zumindest für eine gewisse Zeit äusserst fairen Segelsport, da eben keine baulichen Vorteile zwischen den Schiffen bestehen und damit die Eigenschaft der Regattaattraktivität besonders betont wird. Allerdings sind Einheitsklassen genau wie Eintagsfliegen. Bereits mit ihrer Entstehung ist ihr Lebenszeitende bereits bestimmt. Jede Einheitsklasse ist früher oder später zum Aussterben verdammt, das ist ihre Bestimmung und Veranlagung. Die baulich festgelegte Unfähigkeit sich weiterzuentwickeln führt früher oder später zum unausweichlichen Tod jeder Einheitsklasse. Es liesse sich eine beliebige Reihe bilden, von daher seien hier nur ein paar berühmte Beispiele genannt.  Das Starboot, 1910 von William Gardner entworfen war von 1932 bis 2012 olympisch und damit die erfolgreichste Einheitsklasse aller Zeiten. Der Drachen, 1929 von Johan Anker konstruiert, 1948-1972 olympisch, die Soling, von Jan H. Linge 1966 entworfen, ebenfalls von 1972 bis ins Jahr 2000 olympisch gesegelt. Ebenfalls die internationalen Einheitsklassen, das Folkeboot, 1939 von Tord Sunden gezeichnet, das H-Boot, 1969 von Hans Groop entworfen, die X-99, 1985 von Niels Jeppesen, die Melges 24, 1992 Reichel/Pugh konstruiert, sind allesamt ausgestorben.  

Drachen Goldcup 2018, Bayrischer Yachtclub

Mit ausgestorben soll hier nicht verstanden werden, dass es sich nicht um fantastische Schiffe und hochwertige Regatten handelt, es soll nur gesagt sein, dass es so gut wie keine Neubauten mehr gibt. Die Schiffe werden bis auf wenige Ausnahmen nur noch von vereinzelten Liebhabern nachgefragt und auch die Regattatätigkeit der Klassen nimmt dramatisch ab. Einzige Ausnahme bildet hier vielleicht der Drachen, der sich noch beharrlich gegen seine Ausrottung stemmt, aber auch sein Schicksal ist unausweichlich. Der Drachen wird aussterben wie jede andere Einheitsklasse auch. Um hier nicht nur negativ zu klingen, der grosse Vorteil besteht bei allen Einheitsklassen darin, dass äusserst fairer Regattasport garantiert ist, Schiffunterschiede entscheiden nicht über Sieg und Niederlage. Von daher, wer den rein sportlichen Wettkampf der besseren Segler sucht, ist in einer Einheitsklasse bestens aufgehoben.   

30er Schärenkreuzer -Die Mutation zur Einheitsklasse- ein spannendes Experiment 

Eine noch besonders hervorzuhebende Entwicklung ist bei den 30er Schärenkreuzer zu beobachten. Die 30er waren eine unglaublich erfolgreiche Klasse als Konstruktionsformel und waren Ende der 30er Jahre international mit über 600 Yachten präsent. Eine besonders spannende Evolution ist am Bodensee zu beobachten wo die 30er innerhalb Ihrer Klasse mit dem Ziel Chancengleichheit herzustellen mit Etablierung des «Bijou – Typ», einer sehr erfolgreiche Konstruktion von Knud Reimers, quasi von der Konstruktionsklasse zur Einheitsklasse mutiert ist. Obwohl es ohne Zweifel steht, dass 30er wunderschöne Schiffe sind, so sind doch leider aktuell nur sehr vereinzelt Neubauten des Bijou-Einheitstyps zu verzeichnen. Wie dieses doch gewagte Experiment langfristig ausgeht, wird sich zeigen. Schade wäre es, wenn es die wunderschönen 30er bald nicht mehr gäbe.  

30er Schärenkreuzer Europa Cup 2018

Von daher und mit allem Respekt vor den schönen Einheitsklassen, aus rein yachthistorischer Evolutionsgeschichte betrachtet ist leider festzustellen, dass eine Einheitsklasse nicht langfristig überlebensfähig ist. Ihr mangelt es genetisch an der Fähigkeit sich aus anderen Klassen heraus weiter zu entwickeln und anzupassen. Diese Unfähigkeit führt leider früher oder später zum Aussterben jeder Einheitsklasse, sie wird schlicht und einfach von der sich verändernden Umwelt überholt und ausgerottet.

Ein Blick in die Glaskugel

Wenn die dargelegte These richtig ist und das Überleben einer Klasse in der ausgewogenen Kombination der vier Eigenschaften Formstabilität, Langlebigkeit, Regattaattraktivität und Freizeittauglichkeit besteht, dann liegt der Schluss nahe, das vor allem im Bereich der Formstabilität die heutigen 45er im Vergleich zu aktuellen Yachtkonstruktionen ein deutliches Manko haben. 

Beispielhaft seien hier zwei aktuelle formstabile Yachten aufgeführt. Zuerst die Figaro Beneteau 3. Die Beneteau 3 kombiniert Formstabilität, Bauqualität, Regattaattraktivität und Freizeittauglichkeit in sehr guter Weise. 

Figaro Beneteau 3, Mono Hull One Design Foiler, 2017 Van Peteghem – Lauriot Prevost

Eines der heute international führenden Designbüros Van Peteghem – Lauriot Prevost haben einen moderaten Foiler gezeichnet, der von Amateurcrews beherrschbar ist und ebenfalls noch für Freizeitzwecke einsetzbar ist.  

Das zweite Beispiel ist die aktuelle Club Swan 36 die von Juan Koumyoumdijan entworfen wurde und mit einem C Foil ausgestattet ist. Koumyoumdijan tritt hier das Erbe von Sparkmann Stephens an die 1967 die erste Swan 36 entworfen haben und zeigt in beeindruckender Weise wie Yachtevolution aussehen kann. 

Swan 36, Sparkman & Stephens 1967
C-Foil, Club Swan 36 by Juan Koumyoumdijan, 2019
C-Foil, Club Swan 36 by Juan Koumyoumdijan, 2019

Wie das Beispiel der Swan 36 zeigt ist es durchaus möglich einen klassischen Entwurf wie die Swan 36 von Sparkman&Stephens neu zu überdenken und zeitgerecht zu modernisieren. Die Bauprinzipien bleiben bestehen und werden durch neue Elemente aus anderen Klassen ergänzt. 

Ich denke, dass vor allem der 45er Nationale Kreuzer als Konstruktionsklasse sich genau wie vor über 100 Jahren nicht davor scheuen darf starke Elemente aus anderen Klassen heraus zu übernehmen und bestehende Schwächen abzustossen. Ich glaube die Fähigkeit des 45er zur Mutation, die Fähigkeit sich anzupassen, ist der Grundstein für weitere 100 Jahre erfolgreicher Klassengeschichte. Ich kann mir gut vorstellen mit einem 45er bei der Rund Um im Jahr 2025 bei 6 Beaufort West unter Gennacker von Überlingen nach Lindau zu foilen – mit 18 Knoten Durchschnittsboatspeed, wir bräuchten nur mehr gute zwei Stunden und die Weisswürste wären nicht schon lange kalt! Oder welches unbezahlbare Vergnügen wäre es doch, im Jahr 2025 mit einem 100 Jahre alten klassischen 45er den neuen 45er Foiler an der Bodenseewoche auf der Kreuz bei einer Windstärke geschmeidig im Lee zu überholen und breit grinsend die hübschen kleinen Wasserwirbel des neuen Flossenpaares zu bewundern.   

Honi soit qui mal y pense  

Daniel C. Heine